Nach dem Thron, nun der "Fall"?

19.05.2016 01:44

Nach dem Thron, nun der "Fall"?

Katatonia wollen wie immer bescheiden sein und legen wieder - so viel kann vorwegegenommen werden - ein beachtenswertes und geniales, ja, fast schon mythisch angehauchtes Album hin. Nach vielen Live-Veröffentlichungen und vielen Touren, ist das neue und damit 10. Studioalbum der schwedischen Könige des Dark- Prog bzw. Depri-Metal veröffentlicht. Die Rede ist natürlich von Katatonia und The Fall of Hearts (Mai, 2016). Mit Dead End Kings, dem offiziellen Vorgänger, haben sie sich selbst zu den Königen einer spezifischen, sich allen Kategorisierungen entziehenden Form des Metals gemacht. Die Fans und die Kritiken haben ihnen Recht geben. Mit der Akustik Version dieses Album kam dann die selbst ernannte „Entkrönung“ - und nun: der Fall. Kein "Reinfall", so viel ist klar. Dafür eher eine inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Motiv des Fallens und Gefallenen. Fallen muss man sich auch in die Songs lassen, denn selten waren diese so verschachtelt, sperrig und - ja mal ganz objektiv betrachtet - lang. Das erinnert doch stark an die düster-doomigen Anfänge der Band. Und dennoch klingt alles recht neuartig und anders. Näher an den Wurzeln und trotzdem weiter entwickelt: Katatonia eben. Man muss aber auch erwähnen, dass Katatonia eine Art Narrenfreiheit genießen, da sie künstlerisch ohnehin schon in ihrer Metalsparte alles erreicht haben.

Man ist das ein sperriges Werk geworden! Und dann zwischendurch doch mal poppig. Genau die richtige Entwicklung, nach dem teilweise sehr eingängigen, aber dennoch unbestrittenem Meisterwerk Dead End Kings. Oder?

Es beginnt mit einem eher ungewöhnlichen Opener (ist das der Einfluss von Alcest?), Take Over, der einen verträumten Prolog besitzt, der mir missfällt und eine Wiederholung erfährt, aber zum Ende hin recht tool-artig explodiert. Sehr komplexer und langer, sehr variierender und dann doch - im Refrain - eingängiger Song, der alles bereit hält, was da noch so kommt - eher eine textlich gut situierte Einführung als Übernahme. Die Übernahme stellt sich beim ersten Hören jedenfalls - wie das so ist - nicht ein. Dennoch hat man ein WoW auf dem Mund - soll heißen: man wird neugierig. Der Titel wird dem Song m.E. gerecht, mich hatte er im Vorfeld gespannt gemacht.

Wo Take Over ein hartes Metalbrett war und eine Einladung zum Studium darstellt, geht der zweite Song, Serein, der im Vorfeld veröffentlich wurde, direkt ins Ohr - aber auch direkt ins Tanzbein. Ich muss zugeben, beim ersten Hören, war ich sehr verwirrt: Ist das Katatonia? Jetzt bin ich eher süchtig, als hätte man eine neue Droge probiert. Ein auffällig heller, ja, fast freundlicher und leichter Song, mit zwei wechselnden Passagen, die eine erstaunliche Dynamik entwickeln: Aufdrehen und genießen. So viel Eingängigkeit kann auch so gut sein. Wer hätte das gedacht? Trotzdem findet sich im Mittelteil wieder eine ruhiger, progressiver Teil, der hier allerdings als Stimmungsaufheizer fungiert: Live-Song? Aufjeden! Was wird dieser Titel live abgehen! Der mythisch anmutende Songname des Songs (französisch? auch Alcest-Einfluss?), lädt jedenfalls zum Spekulieren ein.

Das nächste Meisterstück war ebenfalls im Vorfeld veröffentlich worden. Bei Old Heart Falls handelt es sich um einen titelgebenden und eher klassischen Katatonia-Song. Sehr düster, sehr mitreißender Refrain und sehr starke Lyrics. Dennoch wieder progressive Einflüsse, aber gut abgestimmt: Hier stimmt einfach alles. Wer hätte das bei solch einem ausgelutschten Titel vermutet? Allerdings ein wenig y- und me-lastig, y know?

Weiter geht es mit Decima, einem vergleichsweise sehr ruhigen Song, den ich auf Dead End Kings schmerzlich vermisste. Endlich wurde er nachgeliefert. Tolle Atmosphäre und nicht zu überproduziert. Auch hier wieder ein eher ungewöhnlicher Titel, aber auch der übernächste Titel, und der danach usw. geben einem Rätsel auf. Der emotionale Refrain gestaltet sich als im wahrsten Sinne des Wortes herzzerreißend.

Sanction heißt das folgende Lied und erinnert vom Titel her m.E. an die vorhergehenden Publikationen, und kann mit den typischen Perkussion aufwarten. Dieser Song braucht eine Menge Raum und Zeit zur Entfaltung. Von daher kann ich hier nicht viel sagen, außer dass der Titel nicht ganz so ungewöhnlich erscheint wie die anderen. Ein Urteil konnte ich mir also noch nicht bilden. Am Anfang hört man Chöre, was ich sehr gelungen finde. Auch der Text erinnert an andere, eher realitätsnahe Texte („12 hours drinking gin“ habe ich da herausgehört), der Band. Im Mittelteil wieder ungewöhnliche Synthies. Ein zunächst dunkler und verstörender Song voller Schönheit.

Auch Residual, der nächste Song, klingt ähnlich verwildert. Die Zeit wird es klären. Gut, dass es das Internet gibt. Dieses englische Wörtchen, was wohl "verbleibend" heißen soll, habe ich ebenfalls noch nie gehört. Der Anfang erinnert an Leech und der Song entwickelt sich ähnlich schleppend, jedoch bleibt eine "Auflösung" aus. Irgendwie entwickelt es sich ins Tote, aber dann ab 04:29 legt der Song doch noch zu - geile Gitarren, und dann dazu noch die Drums sowie die typischen Perkussin, die an Viva Emptiness erinnern. Die Lyrics sollen wohl das Herzstück des Albums ausmachen. Dennoch einfach ein zu uneinfacher, zu überstrukturierter Song, der von allem zu viel hat.

Mit Serac - was ein Titel!(?) - kommt der dritte, im Vorfeld bekannte Titel, auch wenn ich mir nicht ganz sicher bin, ob diese Publikation auf YT legal war. Dieser Song ist wahrlich majestätisch und gleicht einer verkraterten Landschaft mit vielen träumerischen Momenten, harten Riffs, unerwarteten Synthies und einem famosen Finale - zwar auch wieder sehr sperrig, aber es lohnt sich. Die vielen Vergleiche zu Opeth auf YT sind sicher richtig. Damit werden Katatonia auch einige Fans hinter sich lassen, was mutig und mir egal ist. Solche wuchtigen und zugleich gefühlvollen Songs sind immer willkommen.

Weiter geht es wieder mit einem etwas längeren und eher populistischen Titel. Seit Night is the new Day wiesen wir ja, das Katatonia auch das können. Gemeint ist Last Song before the Fade, der direkt mitreißend durch Tempo startet, dabei sehr an Day and then the Shade vom erwähnten Album erinnert (auch vom Titel her), aber immer wieder in ruhigere Passagen mündet, um dann wieder Auszubrechen. Ein typisch dialektisches Spiel. Auch hier kommen wieder unerwartete und verstörende Synthies zum Einsatz sowie einem schön-klassischen Klavierspiel in der Mitte. Für mich ist der Song allerdings zu textlastig, der Refrain irgendwie gekünstelt und man bekommt einfach Lust auf Day and then the Shade - ach ja, und dann kommen ja noch die Sirenen am Ende, was mich zu Shifts überleiten lässt. Ist das der Tiefpunkt?

Shift übernimmt die Sirenen-Geräusche vom Vorgänger (ein Verweis auf Song 2?), was ich - naja - einfach nur nervig finde. Die klingen dann zwar wieder ab, kommen aber immer wieder, bleiben damit ein maßgebender Teil des Songs. Aber auch sonst weiß der Song mich nicht wirklich zu überzeugen. Wieder sehr viel Text, viel Synthie Kram, viel Eingängigkeit, wenig Effekt. Plätschert so vor sich hin. Die Melodie wird dann ganz schön ausgereizt bis zum Ende hin. Dabei erinnert mich der Anfang sehr stark, wen man das nervige ihr wisst schon was weglassen würde, ebenfalls an das wundervolle Leech vom Vorgänger. Die wuchtige Wendung, die dieser Song innehatte, kommt hier nicht zum Einsatz. Dafür halt eine ausgelutschte Melodie und, falls ich es noch nicht erwähnt haben sollte, nervige Sirenen sowie zwischen durch mal Frauengestöhne, ähm ja. Oder ist das der Tiefpunkt?

Mit The Night Subscriber kommen wir zum ersten Höhepunkt des Albums. Sehr atmosphärischer Songanfang mit tollem Klavier, der sich dann doch sehr stark wandelt - welch unerwartete Härte, die dann doch wieder im Refrain von einer sehr schönen Melodie abgesetzt wird, dann wieder das Piano. Tolle Lyrics. Das Schlagzeug bzw. der neue Schlagzeuger kommt hier beeindruckend zum Einsatz, man zeigt wohl was man kann. Und dann kommt ja auch noch das Finale des Songs (sind das schon wieder Sirenen? Dieses Mal wenigstens unnervig). Ach, eine Hymne dieser Song. Am besten gefallen mir hier aber die Synthies zum Ende hin. Kann ich immer, immer wieder hören.

Nach diesem Feuerwerk kommt auch direkt schon das nächste Highlight: Pale Flag. Dieser Song war schon allein vom Titel her im Vorfeld mein Favorit (ja, ich weiß, wie das klingt). Der Titel hatte mich sehr neugierig gemacht und mein ästhetischer Instinkt hat mich hier nicht in Stich gelassen. Was für ein toller Refrain und was für eine Stimmung. Dabei ist Pale Flag ein ganz kleiner, minimalistischer und stiller Song ohne viel Schmuck. Dennoch klingt er erfrischend anders und reißt mich immer wieder mit, dabei scheint es sogar der kürzeste des Albums zu sein.

Ganz anders ist da Passer, aber wirklich ganz anders, eher das Gegenteil. Passer ist einer der längsten Songs und fängt so reißerisch an, dass man das Gefühl hat, die CD wurde gewechselt. Was für ein Gitarrensolo! Und dann nimmt der Song doch wieder einen ganz anderen Weg. Schnelle und sehr schnelle Parts werden wieder mit ruhigen Stellen gekonnt aneinander montiert. Dazu im Hintergrund ein eher experimentelles Piano. Auch der Refrain ist eher ungewöhnlich. Doch es wird noch besser. Starkes (fast) Finale des Albums.

Bonustitel. Zu Ende - für mich jedenfalls (wer blick heutzutage noch bei den ganzen deluxe editionen durch?) -  geht es dann mit Wide Awake in Quitus. Ein toller, wieder an Frank Default erinnernder, synthielastiger Song, in einer mir unbekannten Sprache (wahrscheinlich schwedisch, was peinlich wäre, da ich gerade schwedisch lerne). (Ich denke, das ist eine Prämiere, wenn auch eine erwartete (früher oder später musste es ja kommen)).

Mit jedem Album haben Katatonia die Messlatte höher gelegt. Doch schon damals war bei Dead End Kings klar, dass jede Perfektion ein Ende finden muss, was durch den selbstreflexiven Titel präsent und repräsentiert wird. Bewusst schlagen die Männer aus dem kalten Norden hier einen verspielten Weg ein, das tut dem Album gut, aber an vielen Stellen wünscht man sich dann doch, eine bessere, soll heißen angemessenere Proportion der progressiven und eingängigen Stellen sowie dessen Übergänge. Man kann sich in diesem Werk verlieren, und das ist wunderbar, das letzte Wort kann hier auch noch freilich nicht gesprochen sein.

Nein, es kommt einfach nicht an Dead End Kings ran, das muss es aber auch nicht: Wir haben hier immer noch sehr gelungenen Metal. Allerdings dieses Mal auch mit einigen Nebengriffen, aber so ist das nun mal, wenn man neue und experimentelle Wegen gehen möchte - hinter her ist man ja dann wieder schlauer. Aber warum haben sie sich denn auch nicht mehr Zeit gelassen? Das letzte Album ist keine zwei Jahre her und in dieser Zeitspanne gab es eine Menge Veröffentlichungen, aber auch Veränderungen in der Band (Gott, was werde ich den alten Drummer vermissen). Einige Songs wirken daher nicht ganz ausgereift, andere hingegen (bewusst) überreif. Dennoch sind sehr starke Songs vertreten und der Rest, der sich im Mittelfeld bewegt, außer einige wenige Ausfälle, ist, verglichen mit dem anderen Metalbrei, immer noch weit über dem Durchschnitt - und dann ist da ja auch noch das kleine Meisterwerk: Pale Flag. Schließlich darf man auch nicht außer Acht lassen, dass mich das Album an viele Stellen (positiv) überrascht hat (Serein z.B.), was beim 10. Studio Album nicht so leicht sein kann.

Auf die Lyrics kann ich z.Z. noch nicht näher eingehen, da sie noch nicht vorliegen

Das düstere Artwork stammt wieder von Travis Smith (man der Mann hat es druff!) und reiht sich nahtlos in das Motiv des Vogels ein, welches die Band seit tiefsten Anfängen begleitet. Wir sehen einen "fallenden" Vogel in einem Hell-Dunkel-Kontrast, der für das alte Herz, natürlich die Band selbst, steht, was sich in zweierlei Hinsicht diskutieren lässt. Im Hintergrund die typische halb-tote Vegetation. Bei genauer Betrachtung findet man noch etwas ungewöhnlich Verschnörkeltes bei "Hearts" im Schriftzug. Viel Spaß beim Spekulieren.